Wahrenberg, Jenny
Am 6. Juni 1937 kam Guste Jenny Wahrenberg als viertes Kind des Ehepaars Max und Erna Wahrenberg, geborene Wagner, in Düsseldorf zur Welt. Ihre drei Geschwister waren noch in Sieniawa geboren worden. Das Städtchen im Karpatenvorland gehörte nach der ersten polnischen Teilung 1772 zu Österreich und hatte sich zu einem Handwerks- und Handelszentrum dreier Volksgruppen – Juden, Polen und Ruthenen – entwickelt, bis es nach Ende des Ersten Weltkrieges 1918 wieder polnisch wurde. Ihre Eltern Max Moses Wahrenberg und Erna Esther Wagner hatten dort 1922 geheiratet. Jennys Schwester Klara war am 6. Juni 1923 zur Welt gekommen, ihr Bruder Gerhard am 13. November 1924 und ihr Bruder Siegfried schließlich am 12. Januar 1926. Seit Dezember 1926 lebte die Familie in Düsseldorf. Dort wohnten bereits ihre Onkel Bernhard und Oskar Wagner. Seit 1932 wohnte ihre Familie in der Nordstraße 3. Im gleichen Haus betrieben ihre Eltern ihr Lebensmittelgeschäft. Das Geschäft war über die Brüder ihrer Mutter Erna Wahrenberg in die Familie gekommen. Insgesamt gab es in Düsseldorf elf Lebensmittelgeschäfte, die von Mitgliedern der Wagner-Familie geführt wurden („Wagners Lebensmittel“). Nach der Machtübernahme wurden die Geschäfte teilweise boykottiert. Die Brüder ihrer Mutter reagierten auf den Boykott und gingen ins Ausland. Die Eltern von Jenny blieben in Düsseldorf und führten weiterhin ihr Geschäft „Wahrenbergs Lebensmittel“.
Nach Jennys Geburt 1937 wurde ihre Mutter, die bereits 42 Jahre alt war, krank und musste in eine Klinik eingewiesen werden. Neben der späten Schwangerschaft belastete ihre Mutter auch die immer schwierigere Situation der Familie in Nazi-Deutschland. Vom 22. Mai 1938 bis zum 17. Juli 1938 befand sich ihre Mutter im St. Josefskloster in Neuss zur Behandlung. In dieser Zeit kümmerte sich ihre Schwester Klara daher wie eine Mutter um die kleine Jenny. Im engen Freundeskreis von ihrer Schwester Klara waren die Schwestern Ruth und Annelore Kremser. Deren Mutter war jüdisch, der Vater jedoch nicht. Mitte des Jahres 1939 wurden Ruth und Annelore von ihren Eltern in die USA geschickt. Der Kontakt zu ihnen blieb über die Eltern jedoch bestehen.
Am 28. Oktober 1938 wurde die einjährige Jenny zusammen mit ihrer Familie aus der Wohnung abgeholt und dann im Zuge der Verschleppung vormals polnischer jüdischer Staatsbürger aus Düsseldorf nach Zbaszyn an der deutsch-polnischen Grenze deportiert. Nachdem sie nach Polen abgeschoben worden waren, schrieben ihre Geschwister Gerhard und Klara mehr als 25 Briefe und Postkarten an Alma und Rudolf Kremser in Düsseldorf. Jenny lebte zusammen mit den Eltern und ihrer Schwester zunächst kurz in Krakau und dann im Ghetto der Stadt Sieniawa, etwa 90 Kilometer südlich von Lublin gelegen. Dort lebten zunächst auch die Großeltern. Als der Zweite Weltkrieg begann, fiel die Stadt Sieniawa für zwei Jahre an die Sowjetunion. Damals waren 60 Prozent der Bevölkerung jüdisch. Ihr älterer Bruder Gerhard musste nach dem Einmarsch der Deutschen und nach der zweijährigen sowjetischen Besetzung in Przemyśl – einem Grenzort zur Ukraine im Karpatenvorland, das durch ein Massaker der Einsatztruppen vom 15. bis 19. September 1939 traurige Berühmtheit erlangte – ab 1941 Zwangsarbeit im Straßenbau leisten.
Am 8. Dezember 1941 schrieb ihre Schwester Klara an Alma Kremser in Düsseldorf: „Bei uns ist alles beim Alten! Beschäftigung haben wir vorläufig nicht, Gesundheitlich sind wir alle gesund. Was hört sich sonst in Düsseldorf? Ist von unseren Bekannten noch jemand dort. Ich hätte eine gr. Bitte an Sie; vielleicht wäre es Ihnen möglich ein paar ältere Kleidungsstücke zu schicken, Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür, da Jenny aus allen Ihren Sachen herausgewachsen ist.“
Und an 24. Dezember 1941 schrieb Klara aus Sieniawa: „Gesundheitlich geht es uns allen ganz gut, aber leider haben wir alle augenblicklich keine Verdienstmöglichkeiten! Mein älterer Bruder, hat bei Rußland 2 Jahre in einer Bäckerei gearbeitet, und sehr schwer auf das Auskommen geplagt; heute darf er dorten schon nicht arbeiten! Trotz allem mein Vater damals etwas zuverdiente, mussten wir sehr viele Gegenstände aus der Wohnung heraus verkaufen, auf den Lebensunterhalt. Mir war es damals auch nicht möglich zu verdienen, da ich russische und polnische Sprachkenntnisse nicht beherrschte. Jetzt beherrsche ich schon besser die polnische Sprache. Meiner kleinen Schwester Jenny geht es sonst ganz gut, sie ist ein sehr kluges und braves Mädelchen geworden, leider kann man ihr heute nicht die richtigen Nahrungsmittel geben!“.
Am 19. März 1942 schrieb ihre Schwester Klara nach Düsseldorf: „Ihre werte Karte haben wir dankend erhalten, und das Paketchen haben wir auch schon vor einigen Tagen mit großer Freude bekommen. Der Inhalt des Paketchen war gerade das, was meiner kl. Schwester Jenny am nötigsten fehlte. Mit den zugelegten süßen Dingen war unser Klein Jennychen noch am meisten überrascht, und den ganzen Tag über hat es von der lieben Tante geplaudert.“
Am 21. April 1942 schrieb Klara über ihre kleine Schwester: „Bei uns ist hier jetzt sehr schönes Wetter, u. da hat unser Jennychen wenigsten so viel Vergnügen, das es sich im freien spielen kann.“ Das Wort „freien“ hat Klara Wahrenberg im Originalbrief gepunktet. Sicher ein Hinweis darauf, dass die Familie das Ghetto nicht verlassen konnte.
Am 8. Juni 1942 berichtete ihr Bruder Gerhard über seine Familie: „Von meinem Vater bekam ich vor ein paar Tagen nach langem Warten endlich eine Karte, indem er mir nicht gerade gutes mitteilte, obwohl ich noch ärgeres befürchtet hatte. Er schreib mir, dass meine l. Mutter wieder nicht gesund ist, und unter ärztlicher Behandlung stehe. Sie war ja schon von früher her nervenleidend, das hatte sich aber heute nochmals wiederholt. Hoffentlich wird es bald vorübergehen. Weiter erfuhr ich, dass der Vater selbst sehr schwach ist, da er täglich letztens in der Stadt eine Arbeit zugestellt bekommt. Doch wird der Vater sich bestimmt ein ärztliches Attest herausnehmen. Sonst ist zu Hause alles beim Alten, Jenny geht täglich mit Klara zum San baden, und Siegfried lernt weiter.“
Ihr Bruder Gerhard befand sich zuletzt in der Stadt Ulanow. Er schrieb am 29. September 1942 ein letztes Mal an Alma Kremser in Düsseldorf: „Erst heute komme ich dazu ihnen einen Brief zu schreiben, nach deren Erhalt Sie aber bestimmt auch traurig sein werden. Von damals an war ich später zwei Wochen zu Hause, und bin später mit der ganzen Familie weg von dort. Später bin ich von den Eltern und Geschwistern abgeteilt worden, und in ein zweites Arbeitslager verschickt worden. Von den Eltern habe ich bis heute, ebenfalls von den Geschwistern, kein Lebenszeichen bekommen, und ich besitze wenig Hoffnung, dass sie noch leben. So bin ich einer allein geblieben und bin hierhergekommen, ich habe keinerlei Beschäftigung noch, und keinerlei Verdienst.“
Die gesamte Familie Wahrenberg hat die NS-Zeit nicht überlebt.