Gedenkbuch

Wahrenberg, Gerhard

Gerhard Wahrenberg wurde am 13. November 1924 in der polnischen Stadt Sieniawa geboren. Das Städtchen im Karpatenvorland gehörte nach der ersten polnischen Teilung 1772 zu Österreich und hatte sich zu einem Handwerks- und Handelszentrum dreier Volksgruppen – Juden, Polen und Ruthenen – entwickelt, bis es nach Ende des Ersten Weltkrieges 1918 wieder polnisch wurde. Seine Eltern Max Moses Wahrenberg und Erna Esther Wagner hatten 1922 geheiratet. Sein Vater Max Moses Wahrenberg war gelernter Textilkaufmann. Am 6. Juni 1923 war seine ältere Schwester Klara zur Welt gekommen. Sein jüngerer Bruder Salomon Siegfried kam am 12. Januar 1926 in Sieniawa zur Welt.

Im Dezember 1926 zog Gerhard mit seiner Familie nach Deutschland und bezog in Düsseldorf eine Wohnung zunächst in der Friedrichstraße 23. In Düsseldorf lebten bereits seine Onkel Bernhard und Oskar Wagner. Sie waren in der Lebensmittelbranche. Sein Onkel Bernhard Wagner führte unter anderem in der Friedrichstraße 124 ein Lebensmittelgeschäft. Auch Gerhards Eltern begannen 1928 zu arbeiten. Sie suchten daher ein Kinderfräulein. Eine diesbezügliche Suchanzeige aus dem Jahr 1929 hat sich erhalten. Ab dem 8. Juli 1930 wohnte Gerhard mit seiner Familie in der Münsterstraße 2. Am 14. Januar 1931 hatte seine Mutter eine Fehlgeburt. Dies belastete sie schwer.

Am 15. März 1932 zog die Familie zur Nordstraße 3. Im gleichen Haus betrieben seine Eltern ihr Lebensmittelgeschäft. Das Geschäft war über die Brüder seiner Mutter Erna Wahrenberg in die Familie gekommen. Insgesamt gab es in Düsseldorf elf Lebensmittelgeschäfte, die von Mitgliedern der Wagner-Familie geführt wurden („Wagners Lebensmittel“). Nach der Machtübernahme wurden die Geschäfte teilweise boykottiert. Die Brüder seiner Mutter reagierten auf den Boykott und gingen ins Ausland. Die Eltern von Gerhard blieben in Düsseldorf und führten weiterhin ihr Geschäft „Wahrenbergs Lebensmittel“. Von 1933 bis 1935 arbeiteten im Geschäft seiner Eltern etwa zehn weibliche Angestellte.

Gerhard besuchte die Volksschule in der Oststraße. Seit 1935 gingen Gerhard und seine Geschwister in die jüdische Schule in der Kasernenstraße in Düsseldorf. Es gibt ein Foto von seiner Schwester, dass ihre Mitschülerin Gisela Wolf mit in die Emigration genommen hat. Von Gerhard und Klara sind außerdem Zeichnungen aus dem Kunstunterricht bei Julo Levin erhalten geblieben und befinden sich heute im Archiv des Düsseldorfer Stadtmuseums.

Am 6. Juni 1937 wurde Gerhards kleine Schwester Gusti, auch Jenny genannt, in Düsseldorf geboren. Gerhards Mutter, die bereits 42 Jahre alt war, wurde nach der Geburt krank und musste in eine Klinik eingewiesen werden. Neben der späten Schwangerschaft belastete seine Mutter auch die immer schwierigere Situation der Familie in Nazi-Deutschland. Vom 22. Mai 1938 bis zum 17. Juli 1938 befand sich seine Mutter im St. Josefskloster in Neuss zur Behandlung. In dieser Zeit kümmerte sich seine Schwester Klara daher wie eine Mutter um die kleine Schwester. Im engen Freundeskreis von seiner Schwester Klara waren die Schwestern Ruth und Annelore Kremser. Deren Mutter war jüdisch, der Vater jedoch nicht. Mitte des Jahres 1939 wurden Ruth und Annelore von ihren Eltern in die USA geschickt. Der Kontakt zu ihnen blieb über die Eltern jedoch bestehen.

Am 28. Oktober 1938 wurde die gesamte Familie Wahrenberg aus der Wohnung abgeholt und dann im Zuge der Verschleppung vormals polnischer jüdischer Staatsbürger aus Düsseldorf nach Zbaszyn an der deutsch-polnischen Grenze deportiert. Nach der Verschleppung wurde ihr Geschäft angeblich für 1000 Reichsmark „arisiert“. Nachdem sie nach Polen abgeschoben worden waren, schrieben Gerhard und seine 18-jährige Klara mehr als 25 Briefe und Postkarten an Alma und Rudolf Kremser in Düsseldorf.

Seine Schwester Klara lebte zusammen mit den Eltern und der jüngeren Schwester Jenny zunächst kurz in Krakau und dann im Ghetto der Stadt Sieniawa, etwa 90 Kilometer südlich von Lublin gelegen. Dort lebten zunächst auch die Großeltern. Als der Zweite Weltkrieg begann, fiel die Stadt Sieniawa für zwei Jahre an die Sowjetunion. Damals waren 60 Prozent der Bevölkerung jüdisch. Gerhard musste nach dem Einmarsch der Deutschen und nach der zweijährigen sowjetischen Besetzung in Przemyśl – einem Grenzort zur Ukraine im Karpatenvorland, das durch ein Massaker der Einsatztruppen vom 15. bis 19. September 1939 traurige Berühmtheit erlangte – ab 1941 Zwangsarbeit im Straßenbau leisten.

Am 8. Dezember 1941 schrieb seine Schwester Klara an Alma Kremser in Düsseldorf: „Bei uns ist alles beim Alten! Beschäftigung haben wir vorläufig nicht, Gesundheitlich sind wir alle gesund. Was hört sich sonst in Düsseldorf? Ist von unseren Bekannten noch jemand dort. Ich hätte eine gr. Bitte an Sie; vielleicht wäre es Ihnen möglich ein paar ältere Kleidungsstücke zu schicken, Ich wäre Ihnen sehr dankbar dafür, da Jenny aus allen Ihren Sachen herausgewachsen ist.“

Und an 24. Dezember 1941 schrieb seine Schwester Klara aus Sieniawa: „Gesundheitlich geht es uns allen ganz gut, aber leider haben wir alle augenblicklich keine Verdienstmöglichkeiten! Mein älterer Bruder, hat bei Rußland 2 Jahre in einer Bäckerei gearbeitet, und sehr schwer auf das Auskommen geplagt; heute darf er dorten schon nicht arbeiten! Trotz allem mein Vater damals etwas zuverdiente, mussten wir sehr viele Gegenstände aus der Wohnung heraus verkaufen, auf den Lebensunterhalt. Mir war es damals auch nicht möglich zu verdienen, da ich russische und polnische Sprachkenntnisse nicht beherrschte. Jetzt beherrsche ich schon besser die polnische Sprache. Meiner kleinen Schwester Jenny geht es sonst ganz gut, sie ist ein sehr kluges und braves Mädelchen geworden, leider kann man ihr heute nicht die richtigen Nahrungsmittel geben!“.

Am 1. März 1942 schrieb Gerhard aus Przemysl an Frau Kremser: „wie ihnen meine Schwester wohl schon mitgeteilt hatte, befand ich mich früher mit meiner Familie in Sieniawa. Jetzt bin ich durch das Arbeitsamt hier nach Przemysl ins Arbeitslager geschickt worden. Ich bin hier gänzlich ohne Mittel und Kleidung, so dass ich wirklich einer Hilfe bedarf. Ich habe hier sehr schwere Arbeit bei wenig Essen. Wir müssen hier 10 St. im Tag arbeiten, und selbst Sonntags ist nicht frei. Die Arbeit ist bei den Häusertrümmern, welche hier die halbe Stadt belegen. Das ist nicht gut, da ich wohl hier den ganzen Sommer bleiben werde. Ich habe gar keine Aussichten hier früher herauszukommen. Wie sie wohl wissen werden, sind meine Eltern nicht im Stande, mich mit Geld und Kleidungsmitteln zu unterstützen. Am nötigsten würde ich ein paar Schuhe zu der Arbeit gebrauchen. Sehr geehrte Frau Kremser ich habe zu ihnen eine große Bitte! Vielleicht wäre es ihnen möglich mir ein paar Schuhe und Kleidungstücke per Post mir zu schicken, eventuell etwas Geld. Wenn dieses ihnen möglich wäre, so bitte ich sie sehr dieses zu erledigen. Ich würde ihnen für diese Hilfe mein Leben lang dankbar sein, und werde es ihnen späterhin sicher doppelt abgeben.“ Und am 11. April 1942 schrieb er: „Endlich nach langem Warten, ist das Paket gestern hier angekommen und ich habe es mir nach der Arbeit auf der Post abgeholt. Ich war ja ganz außer mich vor Freude, dass Sie es sich gar nicht vorstellen können. Ich danke Ihnen also nochmals sehr vom ganzen Herzen denn die Sachen werden mir hier sehr zu Nütze kommen. Der Inhalt war folgender: Die grauen langen Hosen, die schwarzlederne (Arbeit) Ansteckschuhe, 2 Unterleibchen nebst 4 paar Socken. Die Süßigkeiten waren eine freudige Überraschung für mich, und haben fein geschmeckt, denn ich gedenke schon nicht mehr, wann ich das letzte Mal genascht habe. Die Zigaretten sind mir hier auch sehr von Bedarf, da es hier alles sehr knapp ist, und ich gar kein Geld zum Kaufen besitze.

 Am 8. Juni 1942 schrieb Gerhard: „Von meinem Vater bekam ich vor ein paar Tagen nach langem Warten endlich eine Karte, indem er mir nicht gerade gutes mitteilte, obwohl ich noch ärgeres befürchtet hatte. Er schreib mir, dass meine l. Mutter wieder nicht gesund ist, und unter ärztlicher Behandlung stehe. Sie war ja schon von früher her nervenleidend, das hatte sich aber heute nochmals wiederholt. Hoffentlich wird es bald vorübergehen. Weiter erfuhr ich, dass der Vater selbst sehr schwach ist, da er täglich letztens in der Stadt eine Arbeit zugestellt bekommt. Doch wird der Vater sich bestimmt ein ärztliches Attest herausnehmen. Sonst ist zu Hause alles beim Alten, Jenny geht täglich mit Klara zum San baden, und Siegfried lernt weiter.“

Am 21. Juni 1942 schrieb seine Schwester Klara aus Sieniawa an das Ehepaar Kremser in Düsseldorf: „Wir haben Ihre 2 Paketchen mit großer Freude erhalten und danken Ihnen sehr dafür, dass Sie so liebenswürdig waren, uns so auszuhelfen, da es bei uns in allem sehr mangelt. Ich bitte Sie sehr, nach dem BauDienst wo mein Bruder Gerd sich bisher befand nicht´s mehr hinzuschicken, da wir leider vorläufig noch überhaupt nicht genau wissen, wo Gerd sich augenblicklich befindet! Zu den großen Aufregungen, die wir hier haben, ist meine Mutti ganz abgeschwächt worden, und liegt krank, da sich alles zu sehr zu Herzen nimmt. Leider können wir ihr heute nicht die richtige Nahrung geben, u. von dem, was wir Ihr geben, wird sie sich nicht lange aufrecht halten können.“ Das letzte Lebenszeichen von seiner Schwester Klara erhielt das Ehepaar Kremser Mitte 1942. Am 8. Juli 1942 schrieb sie: „Von meinen Bruder Gerd haben wir schon 4 Wochen kein Schreiben erhalten, wir denken sehr viel über ihn nach. Meine liebe Mutti nimmt sich alles am meisten zu Herzen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wir hier die Woche überleben, von Brot ist bei uns überhaupt gar keine Rede, wir sind froh, wenn wir uns täglich eine dünne Suppe kochen können, die wir manche Tage auch nicht haben u. dann hungern. Sie schreiben mir, dass Sie uns Proviant schicken können, da bitten wir Sie höflich, was Ihnen möglich ist zu schicken. Sie können sich kaum denken, wieviel Sie uns damit helfen können. Für alle Ihre Bemühungen danken wir Ihnen nochmals recht herzlich, der Allmächtige soll helfen, wir sollen bei Gesundheit bleiben, so werden wir Ihnen es abdienen mit großem Dank.“

Gerhard befand sich zuletzt in der Stadt Ulanow. Er schreibt am 29. September 1942 ein letztes Mal an Alma Kremser in Düsseldorf: „Erst heute komme ich dazu ihnen einen Brief zu schreiben, nach deren Erhalt Sie aber bestimmt auch traurig sein werden. Von damals an war ich später zwei Wochen zu Hause, und bin später mit der ganzen Familie weg von dort. Später bin ich von den Eltern und Geschwistern abgeteilt worden, und in ein zweites Arbeitslager verschickt worden. Von den Eltern habe ich bis heute, ebenfalls von den Geschwistern, kein Lebenszeichen bekommen, und ich besitze wenig Hoffnung, dass sie noch leben. So bin ich einer allein geblieben und bin hierhergekommen, ich habe keinerlei Beschäftigung noch, und keinerlei Verdienst.“ Und er fügte am Ende des Briefes an: „Da ich jetzt ganz allein bin, ist es mir jetzt immer sehr traurig zu Mute und ich komme mir als so unnütz auf der Welt vor. Das andere Mal werde ich noch ausführlicher schreiben. Es grüßt und küsst herzlichst mit großem Dank ihr Gerhard. Die Adresse ist: Sylwester Praçik Ulanow a/San

Die gesamte Familie Wahrenberg hat die NS-Zeit nicht überlebt.

Autorin: Hildegard Jakobs, Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf